Tomboy: Der Junge in ihr

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Seine Uraufführung hatte der Spielfilm der französischen Regisseurin Céline Sciamma bei der Berlinale 2011. Nun startet der bereits mehrfach preisgekrönte Film am 3. Mai in den deutschen Kinos. „Tomboy“ erzählt auf sensible Weise die Geschichte eines Mädchens, das lieber wie ein Junge leben möchte.

Das Spiel mit den Identitäten ist eines der ältesten, die es gibt. Jeden Tag wird es an jedem Ort gespielt – unabhängig von Alter, Geschlecht oder Status. Ob in jungen Kinderjahren, wenn als Cowboys verkleidete Jungen den Garten unsicher machen, oder im Erwachsenenalter, wenn Anzugträger nach Hause kommen und sich nach der Arbeit mit ausgewaschener Jogginghose auf das Sofa fallen lassen. Doch was geschieht, wenn dieses Spiel mehr ist als nur die Befriedigung der Erwartung anderer Leute, sondern ein innerer Drang, der richtig gelebt werden will? So ergeht es der zehnjährigen Laure, die nach einem Umzug mit ihrer Familie die Chance sieht, mehr zu sein als nur ein „Tomboy“ -ein Mädchen, dass sich wie ein Junge kleidet und benimmt. Während der Vater den Großteil des Tages arbeiten muss, die Mutter schwanger an die Wohnung gebunden ist und die kleine Schwester mit Malstiften abgelenkt wird, stellt sich den Nachbarskindern der zehnjährige Michael vor. Unvergessliche Sommerferien stehen ihm bevor, doch das Spiel mit zwei Identitäten birgt seine Tücken… und kann nicht ewig weiter gehen.

Regisseurin Céline Sciamma ist es gelungen, diese Mischung aus sommerlicher Lebensfreude und drohendem Unheil mit einem Gefühl der Natürlichkeit zu durchziehen, das jeden Zuschauer berührt. Dies liegt nicht nur an der zurückhaltenden Kameraarbeit und musikalischen Untermalung, sondern vor allem an der großartigen Besetzung. Ob raufend als Michael oder rücksichtsvoll als Laure, Zoé Héran spielt diese Rollen ohne große Mühe und mit einer Leichtigkeit, die der gesamte Cast teilt. Ganz besonders ihre kleine Filmschwester Malonn Lévana sorgt dabei für unbekümmerten Witz, betrachtet das Geschehen so unvoreingenommen, dass man sich wünscht, selber wieder dieses Kind zu sein. Sie kommt als erste hinter Laures Geheimnis und nimmt es als das wahr, was es bei äußerer Betrachtung zu sein scheint: Ein Spiel. Sie bringt den ersten Stein ins Rollen und offenbart die Verletzlichkeit von Laure, die gerne Beschützer und Beschützte sein möchte. An dieser Stelle hat es Céline Sciamma glaubhaft geschafft, ohne übertriebene Dramatik einen Bogen vom kindlichen Vergnügen in den Sommerferien und der kommenden Schulzeit zu schlagen, in der es keinen Michael geben kann.

Sie schafft es, an dieser Stelle ohne erhobenen Zeigefinger Fragen aufzuwerfen, deren Antwort „Tomboy“ zwar gibt, aber nicht als ultimative Lösung anbietet. Die Frage ist vielmehr: Wie würden Eltern reagieren, wenn ihr eigenes Kind solch eine Last mit sich herumträgt? Und welche Folgen hat es für das Kind, vor seinen Freunden zugeben zu müssen, dass sie in Wahrheit ein Mädchen ist? Céline Sciamma zeigt eine Antwort, deutet dabei aber viele weitere an und geht damit den einzig richtigen Weg. Denn egal ob Michael mit seiner Freundin Lisa aus der Nachbarschaft die erste, unschuldige Liebe entdeckt oder Laure mit ihrer Schwester im Bad Späße treibt, beide Identitäten sind in ihr und keine lässt sich ohne weiteres verdrängen oder gar auslöschen. Deshalb darf es nur als eine von mehreren Lösungen verstanden werden, dass Laure gerade dann ihre zweite Identität aufgeben muss, wenn der kleine Bruder geboren wird. Ob sie für ihn die große Schwester oder der große Bruder sein wird, ist eine andere Geschichte und darf gerne in den Köpfen der Zuschauer beantwortet werden. Das beste Material, um sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen, wurde mit diesem Film geliefert.

Was Céline Sciamma über die Dreharbeiten zu erzählen hat und welche Gedanken sie sich vor dem Dreh von „Tomboy“ gemacht, könnt ihr bald in einem exklusiven Interview hier bei RedCarpetReports erfahren.

Ab 3. Mai im Kino

© RCR Enrico Seligmann

 

 

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